7. KAPITEL

Kaum hatte sich die Tür hinter ihrer neuen Klientin geschlossen, bereute Ami ihren Entschluss, Morelli zu besuchen. Auf der Fahrt zum County-Krankenhaus wuchsen ihre Furcht und ihre Zweifel. Sie verstärkten sich noch, als Ami die Tür zu Dr. Leroy Ganetts Büro öffnete. Er war der für Morelli zuständige Arzt.

Ganett war ein großer, knochiger Mann mit braunem Haar. Er saß mit dem Rücken zum Fenster seines Büros hinter einem grauen Metall Schreibtisch, neben dem ein altes, hölzernes Buchregal an der Wand stand. Ami stellte sich vor, und Ganett bedeutete ihr, auf einem Stuhl vor der Wand Platz zu nehmen, an der seine Diplome und ein Foto hingen, das ihn in Shorts und T-Shirt auf einem Steg vor einem riesigen Schwertfisch zeigte.

»Was kann ich für Sie tun, Mrs. Vergano?«

»Daniel Morelli ist mein Mandant. Ich möchte ihn sehen.«

»Mich hat niemand informiert, dass das Gericht einen Pflichtverteidiger bestimmt hat.«

»Ich bin nicht sein Pflichtverteidiger. Man hat mich engagiert, Mr. Morelli zu vertreten.«

Ganett runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich Sie ohne Genehmigung des Staatsanwaltes zu Morelli vorlassen darf.«

Ami hatte befürchtet, dass Dr. Ganett so etwas sagen würde. Sie hatte keine Ahnung, ob der Staatsanwalt sie daran hindern konnte, Dan zu sehen. Als sie Vanessa Kohler erklärt hatte, dass sie keine Ahnung vom Strafrecht hatte, hatte sie ihr nichts vorgemacht, doch sie erinnerte sich an etwas, was sie einmal in einer Anwaltsserie im Fernsehen gesehen hatte.

»Dr. Ganett, in Amerika hat jedermann das Recht auf einen Rechtsbeistand. Das wird von der Verfassung ausdrücklich garantiert. Der Staatsanwalt hat ebensowenig die Macht, Daniel Morelli von seinem Anwalt fernzuhalten wie dieses Krankenhaus.«

Dr. Ganett wirkte verunsichert. Ami lächelte ihn an und sprach jovialer weiter. »Hören Sie, Doktor, ich will keine große Angelegenheit aus diesem Besuch machen. Und bestimmt haben Sie auch kein Interesse daran, das Krankenhaus in einen Prozess zu verwickeln, den es nicht gewinnen kann.«

Ami hoffte fast, dass Ganett sich weiterhin weigerte, sie zu Dan vorzulassen. Dann hätte sie ihre Hände in Unschuld waschen können. Doch Ganett zuckte mit den Schultern.

»Vor seiner Tür hält ein Polizist Wache. Wenn er nichts dagegen hat, werde ich Sie auch nicht hindern.«

»Danke. Wie geht es Mr. Morelli?«

»Er ist deprimiert und in sich gekehrt. Seit er hier eingeliefert wurde, hat er mit niemandem gesprochen. Es hätte mich allerdings auch gewundert, wenn er besonders gut gelaunt gewesen wäre. Er wurde angeschossen und erwartet einen Prozess. Unter diesen Umständen ist eine Depression vollkommen normal.«

»Wie ist sein physischer Zustand?«

»Er war ziemlich am Ende, als er zu uns kam. Eine Kugel hat die Milz durchschlagen und die Leber gestreift. Die Milz mussten wir entfernen. Dazu kommt der Blutverlust. Mr. Morelli erhält Antibiotika und Schmerzmittel, und wir führen einige Tests durch, weil er Anzeichen von Fieber zeigt. Angesichts dieser Umstände geht es ihm ganz gut.«

Ganett reichte Ami einen medizinischen Befund. »Hier. Den können Sie behalten. Es ist eine Kopie.«

Ami überflog den Bericht, und Dr. Ganett übersetzte ihr die medizinischen Fachausdrücke, die sie nicht verstand.

Morelli hatte einen Überschuss an weißen Blutkörperchen, außerdem wies er einige alte Narben auf und Spuren von plastischer Chirurgie. Eine Röntgenaufnahme des Bauches zeigte Metallfragmente hinter dem rechten Darmbein, die wie Schrapnell aussahen. Die Blutwerte waren stabil.

»Sie schreiben, dass die Wunden bereits heilen. Wie lange muss Mr. Morelli noch im Krankenhaus bleiben?«

»Ich lasse ihn jedenfalls nicht schon morgen ins Gefängnis verlegen, falls Ihre Frage darauf abzielt. Er benötigt noch medizinische Pflege, aber er macht sich gut. Also wird er wohl nicht mehr allzu lange hier bleiben.«

»Kann ich Mr. Morelli jetzt sehen?«

»Sicher.«

Die geschlossene Abteilung des Krankenhauses befand sich im zweiten Stock am Ende des Gebäudes. Ein muskelbepackter Pfleger in einer weißen Hose und einem kurzärmeligen weißen Hemd saß an einem Holztisch rechts neben einer Metalltür und blätterte in einem Western. In der Tür befand sich ein kleines, viereckiges Fenster aus Sicherheitsglas. An der Wand daneben war eine Klingel. Der Pfleger ließ das Heft sinken, als er Dr. Ganett und Ami sah.

»Mrs. Vergano begleitet mich, Bill. Wir wollen zu Mr. Morelli.«

Bill sprach in sein Funkgerät. Einige Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Dahinter wartete ein weiterer Pfleger. Ami folgte Dr. Ganett über einen Korridor, in dem es nach Desinfektionsmittel roch. Die braunen Wände brauchten dringend einen neuen Anstrich. Der Korridor mündete in einen weiteren, langen Flur, und Dr. Ganett bog, ohne zu zögern, nach rechts ab. Ami sah einen Polizisten, der vor einer Tür saß, die der am Eingang der Station ähnelte. Als sie sich dem Beamten näherten, brach Ami der Schweiß aus, und ihr Magen verkrampfte sich. Sie hatte das Gefühl, dass sie etwas Verbotenes tat. Ami war überzeugt, dass der Polizist sie sofort durchschauen würde

»Officer, ich bin Leroy Ganett, Mr. Morellis Arzt. Das ist Ami Vergano, eine Anwältin, die Mr. Morelli vertritt. Sie würde gern mit ihm reden.«

Der Polizist ließ sich von Ami ihren Anwaltsausweis und einen Ausweis mit Lichtbild zeigen. Ami reichte ihm die Karte und ihren Führerschein. Während sie darauf wartete, dass er ihr seine Fragen stellte, verglich der Beamte sorgfältig ihr Gesicht mit dem Foto auf dem Führerschein.

»Ihre Tasche müssen Sie hier draußen lassen«, meinte er und gab ihr die Ausweise zurück. »Sie dürfen dem Gefangenen nichts geben, klar?«

Ami nickte. Sie konnte kaum glauben, wie leicht es war, zu Morelli vorgelassen zu werden.

»Soll ich mit hineingehen?« erkundigte sich Dr. Ganett.

»Ich möchte erst einmal alleine zu ihm. Sie wissen schon, die anwaltliche Schweigepflicht.« Ami verbarg nur mit Mühe ihre Nervosität.

»Dann gehe ich mal wieder an meine Arbeit«, erklärte Ganett, während der Beamte die Tür von Morellis Krankenzimmer aufsperrte.

»Danke für Ihre Hilfe.«

Der Arzt lächelte. »Kein Problem.«

»Klopfen Sie, wenn Sie fertig sind«, sagte der Polizist zu Ami, bevor er die Tür hinter ihr wieder schloss.

Das Krankenzimmer war spartanisch eingerichtet. Zwei einfache Stühle aus Metall und eine viereckige Metallkommode standen an einer Wand. Die Fenster waren vergittert. Das Kopfende von Morellis Bett war ein Stück hochgefahren, so dass er halb aufgerichtet saß. Unbewegt starrte er Ami an. Er war blass und hohlwangig, aber sein Blick war klar. Ein kleiner Schlauch war an seinem linken Nasenflügel befestigt. Eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit hing über dem Bett. Ihr Inhalt tröpfelte in eine Kanüle, die an Morellis Unterarm befestigt war. Ami ging zum Bett und blickte auf den Verletzten hinunter.

»Hallo, Dan. Wie fühlen Sie sich?«

»Nicht direkt großartig, aber besser als vor einigen Tagen.«

»Dr. Ganett meint, Sie machen sich gut.«

»Hat er gesagt, was mit mir passieren wird?«

»Sie bleiben so lange auf der geschlossenen Abteilung des County-Krankenhauses, bis Sie so weit wieder hergestellt sind, dass man Sie ins Gefängnis verlegen kann.«

»Das ist nicht gut«, meinte Morelli, aber er sprach mehr mit sich selbst als mit Ami.

»Waren Sie schon einmal eingesperrt?«

»In Vietnam«, erwiderte er leise. Offenbar war er mit seinen Gedanken ganz wo anders als in der Realität des Krankenhauses.

»Waren Sie Soldat? Haben Sie dort so zu kämpfen gelernt?«

Diese Frage riss ihn wieder in die Gegenwart zurück. »Wie haben Sie es angestellt, zu mir vorgelassen zu werden?« Er klang plötzlich misstrauisch.

»Was meinen Sie damit?«

»Sie sind der einzige Besuch, den ich bekommen habe. Bis auf einen Detective und einen Kerl aus dem Büro des Staatsanwalts. Warum hat man Sie hereingelassen?«

Ami errötete. »Ich habe gesagt, ich sei Ihre Anwältin.«

Morellis Pupillen weiteten sich. »Das hätten Sie nicht tun sollen. Gehen Sie wieder raus, und sagen Sie ihnen, dass Sie nicht meine Anwältin sind!«

»Warum?« »Glauben Sie mir einfach! Sie müssen sich von mir fernhalten. Es ist weder für Sie noch für Ryan gut, wenn sich herumspricht, dass wir uns kennen.«

»Dafür ist es zu spät«, erwiderte Ami. »Das hat bereits in allen Zeitungen und im Fernsehen Schlagzeilen gemacht. Die Medien stürzen sich wie die Geier auf dieses Baseballspiel, das in einem Blutbad endete. Sie haben mir und Ryan das Leben wirklich schwergemacht.«

»Tut mir leid. Das wusste ich nicht. Ich habe weder ferngesehen noch Zeitung gelesen, seit ...« Morelli verstummte. Er wirkte sehr besorgt.

»Ryan vermisst Sie«, erklärte Ami. »Hat er gesehen, was passiert ist?«

»Natürlich. Sie lagen in einer Blutlache. Er dachte, Sie seien tot.«

Morellis Miene entspannte sich, und er senkte den Kopf.

»Ich wollte nicht, dass die Kinder so etwas mit ansehen müssen.«

»Warum haben Sie es dann getan?«

Morelli schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Es ging so schnell. Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen.« Er wirkte sichtlich erschüttert. »Gehen Sie! Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie gekommen sind, aber bitte kommen Sie nicht wieder. Und sagen Sie Ryan, dass es mir gutgeht. Ich möchte nicht, dass er sich meinetwegen Sorgen macht.«

»Das sage ich ihm, aber bevor ich gehe, muss ich etwas mit Ihnen besprechen. Ich bin sozusagen tatsächlich Ihre Anwältin. Eine Frau hat mich engagiert, damit ich Sie vertrete. Sie behauptet, sie könnte Ihnen helfen. Ich habe ihr gesagt, dass ich Ihren Fall vor Gericht nicht vertreten kann. Ich verstehe nichts von Strafrecht, aber ich war bereit, Ihnen eine Nachricht von ihr zu überbringen.« »Wer ist diese Frau?«

»Sie heißt Vanessa Kohl er.« Morelli zuckte zusammen.

»Sie behauptet, Sie aus der Highschool zu kennen. Sie hätten sich Mitte der achtziger Jahre wiedergesehen. Sie ist im Hilton abgestiegen, Zimmer 709. Ich habe ihre Telefonnummer.«

»Nein! Sagen Sie Vanessa, dass ich Sie nicht sehen will. Sie soll sich von mir fernhalten. Sagen Sie ihr, dass sie wieder nach Hause fahren soll.«

»Aber sie glaubt, sie könnte Ihnen helfen.«

Morelli reagierte abweisend. »Tun Sie, worum ich Sie bitte, Ami! Sagen Sie ihr, sie soll nach Hause fahren. Und ich will auch nicht, dass Sie wiederkommen. In meiner Nähe sind Sie nicht sicher.«

»Aber Dan ...«

»Verschwinden Sie!« Plötzlich begann er zu schreien. »Gehen Sie, sofort! Ich will nicht mehr mit Ihnen reden!«

Aufgewühlt verließ Ami das Krankenhaus. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Morelli ihre Hilfe so nachdrücklich ablehnen würde. Während der Fahrt zurück in ihr Büro versuchte sie, die Situation aus seinem Blickwinkel zu betrachten, und ihr Ärger kühlte etwas ab. Dan war schwer verletzt und sah einer Gefängnisstrafe entgegen. Er war ein Mann, der gern im Freien lebte, doch nun würde er vermutlich im Gefängnis landen. Seine Zukunft sah alles andere als rosig aus. Wie Dr. Ganett gesagt hatte, war es normal, wenn jemand in Morellis Lage deprimiert war, und es war egoistisch, von ihr zu erwarten, dass Morelli auf ihren Besuch erfreut und dankbar reagieren würde.

Morellis Reaktion auf die Nachricht, dass Vanessa Kohler in der Stadt war, konnte sie ebenfalls nachvollziehen. Schließlich hatte er die Frau seit Mitte der achtziger Jahre nicht mehr gesehen. Ami hatte zwar keine Ahnung, wie ihre Beziehung vor zwanzig Jahren ausgesehen haben mochte, aber Vanessa benahm sich eindeutig seltsam. Vielleicht hatte Morelli sie ja nie richtig gemocht, und es passte ihm nicht, dass ausgerechnet sie ihre Nase in seine Angelegenheiten steckte.

Als Ami die Tür ihrer Kanzlei öffnete, war sie überzeugt, dass Ihre Arbeit an dem Morelli-Fall erledigt war. Das hatte er unmissverständlich klargemacht. Sie würde Vanessa Kohler anrufen und ihr sagen, dass Morelli sie als Rechtsbeistand ablehnte und außerdem mit niemandem reden wollte.

»Mrs. Vergano«, begrüßte sie die Rezeptionistin, als Ami sich dem Tresen näherte. »Diese Gentlemen möchten zu Ihnen.«

Zwei Männer in Anzügen standen auf und musterten Ami auf eine Art und Weise, die ihr Unbehagen einflößte. Der größere der beiden sah ausnehmend gut aus, fast wie ein Dressman. Seine markanten Gesichtszüge wirkten sicher aus jedem Winkel fotogen, aber sie waren beinahe zu perfekt, wie eine wirklich gute Computeranimation. Der andere war kleiner und muskulöser. Sein Haar wirkte ungepflegt, und auch seine Kleidung war nicht so teuer wie die seines Begleiters.

»Ami Vergano?« fragte der Dressman unfreundlich.

»Ja.«

»Ich bin Brendan Kirkpatrick aus dem Büro des Bezirksstaatsanwalts von Multnomah County. Das ist Howard Walsh, Detective der Polizei von Portland. Wir würden gern mit Ihnen reden.«

»Sicher.« Ami zwang sich zu einem Lächeln. Es konnte nur um den Morelli-Fall gehen. »Kommen Sie bitte in mein Büro.«

Sie hatten Amis Büro kaum betreten, als sich Kirkpatrick und Walsh unaufgefordert hinsetzten.

»Worum geht es?« Ami hoffte, dass sie einigermaßen unschuldig klang

Kirkpatrick nagelte Ami mit einem Blick fest, der ihr deutlich zu verstehen gab, dass er ihr kein einziges Wort abkaufen würde.

»Ich habe gerade einen sehr irritierenden Anruf erhalten. Sie kennen Dr. Ganett, nicht wahr?«

Ami antwortete nicht.

Kirkpatrick lächelte kühl. »Jedenfalls kennt er Sie. Er hat gesagt, Sie seien im Krankenhaus aufgetaucht und haben behauptet, Daniel Morellis Anwältin zu sein. Dr. Ganett hat weiterhin erklärt, Sie hätten gedroht, das Krankenhaus zu verklagen, wenn er Sie nicht zu meinem Gefangenen vorlassen würde. Also, Mrs. Vergano, sind Sie Morellis Anwältin?«

»Ja.« Ami krampfte sich der Magen zusammen.

»Das ist sehr interessant. Das Gericht hat Sie nicht zum Pflichtverteidiger bestimmt, und Morelli hat weder einen Anruf getätigt noch Besucher bekommen, bis Sie sich Ihren Weg in sein Krankenzimmer erschlichen haben.«

»Morelli hat mit Ihnen zusammengelebt, Mrs. Vergano. Ist das richtig?« Die Frage, die Walsh an sie stellte, implizierte, dass Morelli mehr als nur ihr Mieter gewesen war, aber darauf ging Ami nicht ein.

»Er war mein Untermieter.«

»Haben Sie Dr. Ganett gesagt, Sie seien Morellis Anwältin, damit Sie ihm einen Privatbesuch machen konnten?« wollte der Detective wissen.

»Nein.«

»Wer hat Sie dann engagiert?« fauchte Kirkpatrick.

Die beiden glaubten offenbar, sie könnten sie herumstoßen, weil sie eine Frau war und keine Ahnung hatte. Amis Furcht wich Zorn, aber als sie antwortete, lächelte sie freundlich. »Leider ist das vertraulich.« Kirkpatrick lief rot an. »Das ist kein Spielchen, Mrs. Vergano. Ihr Freund hat einen Polizeibeamten angegriffen und einen Mann beinahe getötet. Er ...«

»Moment!« unterbrach Ami ihn. »Daniel Morelli war nie mein Freund. Ich weise Ihre Unterstellung hiermit ausdrücklich zurück. Und jetzt kommen Sie zur Sache! Was wollen Sie hier?«

»Immer mit der Ruhe!« Walsh versuchte, die Wogen zu glätten. »Wir sind auf ein kleines Problem gestoßen, und das macht uns ein bisschen nervös.«

»Was für ein Problem?«

»Morellis Ausweis ist gefälscht. Wir haben seine Fingerabdrücke durch den Computer gejagt, allerdings ohne jedes Ergebnis. Soweit wir wissen, ist Morelli vor zwei Monaten in Portland aufgetaucht. Davor hat er quasi nicht existiert.«

Ami konnte ihre Überraschung nicht verbergen.

»Sie haben dem Beamten, der Sie nach der Festnahme von Morelli befragt hat, erzählt, dass Sie ihn auf einer Kunsthandwerksmesse kennengelernt haben«, fuhr Walsh fort.

»Das ist richtig.«

»Kannten Sie ihn davor bereits?«

»Nein.«

»Tja, ebenso wenig wie alle anderen, mit denen wir geredet haben. Dies, der gefälschte Ausweis und die Art und Weise, wie er sich auf dem Spielfeld benommen hat, führt uns zu der Annahme, dass er möglicherweise ein Terrorist sein könnte.«

Ami erbleichte. Diese Möglichkeit hatte sie nie in Betracht gezogen. Morelli war zweifellos ein ausgebildeter Kämpfer. Hatte er vielleicht in einem Al-Kaida-Lager gelernt, wie man Leute mit einem Kugelschreiber tötet?

»Wir haben gehofft, Sie könnten uns sagen, wer er wirklich ist, Mrs. Vergano«, meinte der Detective

Ami schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Ich kenne ihn erst seit zwei Monaten. Er hat sich mir gegenüber immer als Daniel Morelli ausgegeben.«

»Vielleicht kennt die Person, die Sie engagiert hat, ja seinen richtigen Namen«, setzte Kirkpatrick nach.

»Tut mir leid«, antwortete Ami entschuldigend. »Ich kann Ihnen den Namen nicht verraten. Das ist vertraulich.«

Kirkpatrick drehte sich zu Walsh um. »Sie kennen meine Meinung, Howard. Ich glaube, dass niemand Mrs. Vergano engagiert hat. Ich glaube, dass sie die Geschichte, sie sei Morellis Anwältin, erfunden hat, damit sie zu ihm konnte.«

»Das wäre ein schweres Vergehen, Brendan.«

»Im besten Fall Behinderung der Justiz, Howard.« Kirkpatrick schaute Ami wieder an. »Die Anklage könnte noch erheblich drastischer ausfallen, sollte sich herausstellen, dass Morelli ein Terrorist ist.«

»Sie können mir drohen, soviel Sie wollen, Mr. Kirkpatrick. Sie wissen sehr gut, dass es mir nicht erlaubt ist, den Namen der Person preiszugeben, die mich engagiert hat.«

»Falls jemand Sie engagiert hat.« Kirkpatrick sah sich in Amis Büro um. »Nach dieser Klitsche hier zu urteilen, laufen Ihre Geschäfte nicht besonders gut. Morellis Fall bringt eine Menge Publicity. Sein Anwalt bekommt jede Menge Presse. Vielleicht taucht sein oder ihr Gesicht sogar im Fernsehen auf. Haben Sie vielleicht ein wenig den Sensationsgeier gespielt?«

Ami stand auf. »Das reicht! Verschwinden Sie aus meinem Büro!«

»Ich glaube, Sie sind ins Krankenhaus gegangen und haben sich durch eine Lüge Zugang zu Morelli verschafft, damit Sie ihn dazu bringen konnten, dass er sich von Ihnen vertreten lässt«, ergriff Kirkpatrick wieder das Wort. »Dafür können Sie aus der Anwaltskammer ausgeschlossen werden.« »Wenn Sie noch eine Minute länger hier bleiben, dann begehen Sie Hausfriedensbruch. Bevor Sie mich mit Ausschluss bedrohen, sollten Sie sich vielleicht überlegen, was die Anwaltskammer unternimmt, wenn ich Ihnen mitteile, wie Sie sich in meinem Büro aufgeführt haben.«

Kirkpatrick lächelte unverschämt. Amis Drohung beunruhigte ihn offenbar nicht im Geringsten. »Wir wissen, dass Sie nicht Morellis Anwältin sind, Mrs. Vergano. Dr. Ganett hat Verdacht geschöpft, aber er wollte sich erst vergewissern, bevor er mich anrief. Also hat er Morelli gefragt, ob Sie seine Anwältin sind. Morelli hat bestritten, dass Sie ihn vertreten.«

»Wir können diese kleine Meinungsverschiedenheit ganz leicht klären«, schlug Walsh vor. »Begleiten Sie uns doch einfach ins Krankenhaus. Wenn der Gefangene bestätigt, dass Sie ihn vertreten, entschuldigen wir uns.«

Ami saß in der Falle. Wenn sie mit ins Krankenhaus fuhr, würde Morelli Kirkpatrick und Walsh sagen, dass sie keinesfalls seine Anwältin war. Aber wenn sie sich weigerte mitzukommen, würden die beiden sie vielleicht auf der Stelle verhaften.

»Das ist ein ausgezeichneter Vorschlag«, bluffte Ami. »Ich erwarte eine förmliche Entschuldigung von Ihnen beiden, wenn Mr. Morelli Ihnen bestätigt, dass ich seine Anwältin bin.«

»Wenn er das nicht tut, können Sie sich gleich einen eigenen Anwalt nehmen«, erwiderte Kirkpatrick.

Dr. Ganett wirkte nervös, als Ami, Kirkpatrick und Walsh in die geschlossene Abteilung des Krankenhauses kamen. Er nickte dem Stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt und dem Detective zu, brachte es jedoch nicht fertig, Ami in die Augen zu sehen.

»Schön, Sie wiederzusehen, Dr. Ganett«, erklärte Kirkpatrick. »Mrs. Vergano kennen Sie ja bereits.«

Ganett errötete. »Ich habe hoffentlich keine Schwierigkeiten verursacht.« »Ganz und gar nicht«, versicherte ihm Walsh. »Begleiten Sie uns doch bitte zu Morellis Zimmer!«

Sie warteten schweigend vor der Sicherheitstür, während der Pfleger seinen Kollegen verständigte. Kirkpatrick und Walsh wirkten entspannt und zuversichtlich, Ganett hingegen trat von einem Fuß auf den anderen. Amis Verstand arbeitete auf Hochtouren.

Die Tür öffnete sich mit einem metallischen Klacken. Dr. Ganett ging voraus zu Morellis Krankenzimmer. Ami konnte nicht fassen, in was für eine Klemme sie sich manövriert hatte. In wenigen Momenten würde man sie verhaften. Ihre Existenz stand auf dem Spiel. Wie sollte sie Ryan und sich versorgen, wenn man sie aus der Anwaltskammer ausschloss?

Morelli saß aufrecht im Bett, als sie hereinkamen. Sein Blick glitt von Kirkpatrick zu Walsh und dann zu Ami. Als er sie anschaute, versuchte Ami ihm ihre Besorgnis zu signalisieren, doch Morelli zuckte nicht mit der Wimper.

»Erinnern Sie sich an mich, Mr. Morelli?« fragte der Stellvertretende Bezirksstaatsanwalt.

»Antworten Sie nicht auf diese Frage!« platzte Ami heraus.

Kirkpatrick war sichtlich schockiert, dass Ami die Tollkühnheit besaß, ihn zu unterbrechen. Sie drehte sich zu ihm herum.

»Mein Mandant hat das Recht, sich mit seinem Rechtsbeistand zu beraten, bevor er irgendeine Frage eines Anklägers oder der Polizei beantwortet.«

»Was ziehen Sie denn hier für eine Show ab?« fauchte Kirkpatrick empört.

»Ich ziehe hier gar nichts ab, Mr. Kirkpatrick. Ich gebe meinem Mandanten nur den Rat, den ihm jeder gute Anwalt geben würde. Ich wäre vollkommen unfähig, wenn ich meinen Mandanten mit den Behörden reden ließe, ohne mich zuerst mit ihm zu beraten. Das ist die Aufgabe von Anwälten, Brendan. Sie beraten ihre Mandanten.«

Kirkpatrick lief puterrot an. Morelli schaute von Ami zu dem Stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt.

»Ist diese Frau ihre Anwältin?« Kirkpatricks Stimme klang erstickt, während er krampfhaft versuchte, seiner Wut Herr zu werden.

»Antworten Sie nicht auf diese Frage«, befahl Ami. »Ich sollte wohl besser den Ratschlägen meiner Anwältin folgen, Mr. Kirkpatrick«, erwiderte Morelli liebenswürdig. Kirkpatrick sah aus, als hätte er Ami am liebsten gewürgt. »Sie halten sich wohl für sehr clever, was?«

»Ich halte mich für die Anwältin dieses Gentleman, und ansonsten schulden Sie mir wohl eine Entschuldigung.«

Kirkpatrick starrte Ami einen Moment wütend an, drehte sich auf dem Absatz herum und marschierte hinaus. Walsh nahm seine Niederlage gelassener hin. Er schüttelte den Kopf und lächelte Ami respektvoll an.

»Ich würde mich gern mit meinem Mandanten beraten, Dr. Ganett«, erklärte Ami entschlossen.

»Natürlich. Entschuldigen Sie. Ich hatte nur Sorge, dass ...«

Er geriet ins Stammeln.

»Schon gut«, antwortete Ami großmütig. »Ich bin froh, dass Sie besorgt genug waren, dass Sie mich überprüft haben. Die meisten Leute wären nicht so gewissenhaft gewesen.«

»Was sollte das denn?« fragte Morelli, als sie allein waren. Ami ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sie zitterte am ganzen Körper.

»Geht es ihnen gut?« erkundigte sich Morelli nun freundlicher.

»Nicht wirklich. Dieser Idiot Kirkpatrick hat mich beschuldigt

...« Sie schüttelte den Kopf. »Er hat mir alles Mögliche unter- stellt. Er hat sogar gesagt, ich wäre ein Sensationsgeier.« Sie sah Morelli an. »Sie hätten mich verhaftet, wenn Sie nicht gesagt hätten, dass ich Ihre Anwältin sei. Danke, Dan.«

»Gern geschehen. Kirkpatrick ist wirklich ein Idiot.« Er lächelte. »Es hat mir gefallen, wie Sie mit ihm umgesprungen sind.« Er lachte plötzlich laut auf. »Ich dachte schon, sein Kopf würde explodieren, als Sie ihm sagten, er solle sich bei Ihnen entschuldigen.«

Ami rang einen Moment um ihre Würde, doch dann fiel plötzlich die Spannung von ihr ab, und sie kicherte haltlos.

»Er war wirklich ganz oben auf der Palme, stimmt's?« fragte Ami.

»Ich glaube nicht, dass er Leute mag, die sich gegen ihn stellen.«

Ami errötete. Sie war stolz, dass sie nicht gekuscht hatte.

»Wir müssen über zwei Dinge reden«, sagte sie dann. »Zuerst: Sie brauchen einen Anwalt.«

Morelli wollte etwas sagen, aber Ami fiel ihm ins Wort.

»Ich werde Sie nur so lange vertreten, bis ich einen guten Strafverteidiger finde, der mich ersetzt. Aber Sie brauchen Hilfe.«

»Ich weiß nicht, ob ich Hilfe will.« Morelli wirkte traurig und mutlos. Sein plötzlicher Stimmungsumschwung erschreckte Ami. »Ich hätte Barney beinahe umgebracht, und ich hätte diesen Cop mit Sicherheit getötet, wenn sein Partner mich nicht niedergeschossen hätte.«

»Warum haben Sie das getan?«

»Als Barney nach mir schlug, hat meine Ausbildung die Oberhand gewonnen. Ich habe nicht nachgedacht.« Morelli sprach so leise, dass Ami ihn kaum verstehen konnte. »Ich habe geschworen, dass ich nie wieder jemanden verletzen würde, Ami. Ich habe es so sehr versucht.« Er schüttelte den Kopf. »Viel- leicht sollte ich einfach nehmen, was kommt, dann ist die Sache erledigt. Ich bin es so müde, immer wegzulaufen.«

»Wer sind Sie, Dan?« fragte Ami.

Morelli schaute sie an.

»Wer sind Sie wirklich?«

»Ich verstehe Ihre Frage nicht«, antwortete Morelli misstrauisch.

»Die Polizei hat Ihren Ausweis überprüft. Er ist gefälscht. Und sie haben Ihre Fingerabdrücke durch den Computer laufen lassen. Sie sind nicht registriert. Wer sind Sie?«

Morelli drehte den Kopf weg. »Ich bin niemand, den Sie gern kennen wollen«, antwortete er traurig.

»Dan, ich möchte Ihnen wirklich helfen.«

»Das weiß ich zu schätzen, aber jetzt sollten Sie lieber gehen.«

Die Schuld wird nie vergehen
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